Utopische Klangräume
Eine besondere Aura umgibt den Namen Carlo Gesualdo. Nicht nur schuf der Italiener eine Musik, die in der europäischen Musikgeschichte ihresgleichen sucht, auch seine Lebensgeschichte könnte sagenhafter und schillernder nicht sein. Die Biographie des komponierenden Fürsten von Venosa liest sich wie eine shakespear’sche Tragödie und so verwundert es kaum, dass sie selbst Gegenstand von Literatur und Musiktheater wurde. Im Jahre 1590 ermordet Carlo Gesualdo seine Frau, deren Liebhaber und die gemeinsame Tochter. Um der Rache der Familie seiner Braut zu entgehen, zieht er sich auf sein Schloss in Venosa zurück und verbringt den Rest seines Lebens in Abgeschiedenheit. In der Einsamkeit erschafft er ein musikalisches Œuvre von radikaler Modernität. Seine Madrigale weisen chromatische Verdichtungen und schroffe harmonische Fortschreitungen auf, die wir so erst in der Musik des 20. Jahrhunderts wiederfinden. Die geistliche Musik, der sich Gesualdo am Ende seines Lebens beinahe ausschliesslich widmet, verzichtet meist auf Extreme der musikalischen Affektgestaltung, ist aber harmonisch nicht weniger farbenreich gestaltet. Es sind düstere, rastlose Klangfortschreitungen, stetig nach einer Auflösung sehnend – die Musik eines Menschen, der nach verzweifelt nach Vergebung sucht.
Auch am Ursprung der Komposition Aurora steht ein brutaler Gewaltakt. Hans Zimmer, der momentan wohl erfolgreichste Filmmusikkomponist in Hollywood, hatte in seiner Karriere schon unzählige Mord- und Gewaltszenen musikalisch untermalt, als 2012 ein Mann bei einer Kinovorstellung des ebenfalls von Zimmer vertonten Films „The Dark Knight Rises“ zwölf Menschen erschoss und unzählige verletzte. Bestürzt von den Ereignissen schuf Zimmer das Chorstück Aurora für die Angehörigen der Opfer in der gleichnamigen Stadt. Dabei übertrug Zimmer seine Grossleinwandklänge auf einen breit aufgefächerten Chorapparat, der auf Vokalisten einen meditativen Gesang zwischen Klage und Trost anstimmt. Ganz am Ende erklingt einmalig ein verhallender Ruf nach Frieden – Pace! Obwohl sich der deutsche Komponist Enjott Schneider ebenfalls einen Namen in der Filmwelt gemacht hat – nicht zuletzt durch den Score zu Schlafes Bruder – gemahnt seine Motette Da pacem domine mit ihrem eindringlichen Ruf nach Frieden nicht unbedingt an die cineastische Klangwelt. Vielmehr vereint Schneider Anklänge an die mittelalterliche Musik mit dissonanten Tonschichtungen.
Ein ähnliches Prinzip liegt der Musik des schwedischen Komponisten Sven-David Sandström zugrunde. Sandström eröffnet in seinem Werk A new heaven einen utopischen Klangraum, in dem Akkorde und melodische Linien langsam verwischen, bis sich aus der Unschärfe wieder ein neuer Zusammenklang einstellt. Sandström fordert sein Publikum auf, in diesen Raum hineinzuhören, ihn vom ersten Unisono bis zum tief wabernden Cluster am Ende zu erleben.
Umrahmt werden die Chorwerke von den Klängen des Zinks. Dieses Instrument, das irgendwo zwischen Blockflöte und Trompete zu verorten ist, bringt uns zurück zu Gesualdo, zu dessen Lebzeiten der Zink seine Blüte erlebte.
Moritz Achermann