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Innerliche Leuchtkraft

Den letzten Werken grosser Komponisten haftet stets ein besonderer Nimbus an. Ob Mozarts Requiem oder Bachs Kunst der Fuge, man glaubt, den letzten Lebenshauch eines Tonsetzers zu vernehmen, die Abschiedsgeste eines Künstlers, der sich in Erwartung des herannahenden Todes selbst ein musikalisches Denkmal setzt. Meist erweisen sich diese Vorstellungen als mystifizierende Überhöhungen einer Wirklichkeit, die wesentlich schmuckloser ist, als wir es gerne sähen. Im Falle von Heinrich Schütz’ (1585-1672) Schwanengesang lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass ein Komponist hier ganz bewusst sein „letztes Werk“ geschrieben hat. Heinrich Schütz, der Grossmeister des deutschen Frühbarock, den seine Zeitgenossen als Vater der modernen Musik priesen – Schütz, der in Italien studiert und in Venedig, Kopenhagen, Dresden, Weimar gewirkt hatte – Schütz, der die Schrecken des Dreissigjährigen Krieges und seine Folgen überstand, so manchen Schüler und Fürsten überlebte und das spektakuläre Alter von 86 Jahren erreichte, komponierte 1672 in seiner Geburtsstadt Weissenfels sein letztes Werk. Die doppelchörig angelegte Sammlung umfasst eine elfteilige Vertonung des 119. Psalms und endet mit einer Vertonung des deutschen Magnificat, dem Lobgesang der Maria. Gerade dieses Magnificat, das in unserem Konzert erklingt, zeigt, dass der Schwanengesang kein Lamento, kein Klagegesang, sondern eine Retrospektive auf ein erfülltes künstlerisches Leben ist – ein Résumé eines Lebenswerks. In seiner doppelchörigen Klangpracht und der plastischen Ausgestaltung des Textes verweist das Magnificat auf Schütz’ Studienzeit in Venedig bei Giovanni Gabrieli (1557-1612), dem Meister der venezianischen Mehrchörigkeit. So steht diese Komposition auch der doppelchörigen Vertonung des Psalm 100 („Jauchzet dem Herren“) nahe, den Schütz 1619 in der Tradition seines Lehrers schrieb. Die sechsstimmige Motette Die Himmel erzählen die Ehre Gottes entstand 1648 in Schütz’ produktivster Phase am Ende des langen verheerenden Krieges.

Zu Schütz’ Schülern zählt der deutsche Komponist Johann Vierdanck (1605-1646), der sich als versierter Violinist und Kornettist um die Instrumentalmusik des Frühbarock verdient machte. Seine Sonaten und Canzonen bestechen durch kunstvolle Stimmführungen, witzige motivische Einfälle und sprudelnde Virtuosität. Von hoher Virtuosität zeugen auch die Sonaten und Turmmusiken des Trompeters und Komponisten Gottfried Reiche (1667-1734). Als Stadtpfeifer in Leipzig zählte Reiche nicht zuletzt Johann Sebastian Bach (1685-1750) zu seinen Bewunderern und Freunden. Für Reich schuf Bach etliche äusserst anspruchsvolle Trompetenstimmen in seinen Kantaten. Die hohen Anforderungen, die diese Werke noch heute an Trompetisten stellen, lassen die herausragende Begabung Reiches erahnen. Vokale Virtuosität fordert Bachs fünfstimmige Motette Jesu meine Freude. Diese Trauermusik basiert auf dem gleichnamigen Kirchenlied des Barockdichters Johann Franck. Mit einem symmetrischen Aufbau, in dessen Zentrum eine Fuge steht, schiebt Bach motettische Vertonungen verschiedener Stellen aus dem Römerbrief zwischen die Choralstrophen. Dabei erhält jede Strophe ihr eigenes Klangbild, während die Zwischensätze verschiedenste Affekte, wie etwa das wilde Toben der Welt, abbilden. Trotz der düsteren Grundstimmung des Werks dringt immer wieder auch Licht in das musikalische Gefüge, in besonderem Masse trifft dies auf die beiden Terzette zu, die von einer sanften, tröstenden Kraft beseelt sind. Eine solche innerliche Leuchtkraft liesse sich auch dem O magnum mysterium des amerikanischen Komponisten Morten Lauridsen attestieren. Die Komposition ist geprägt von einer grossen atmenden Ruhe, die mit wenigen musikalischen Mitteln ein Maximum an klangsinnlicher Wirkung erzeugt.

 
 
Moritz Achermann