Mystische Klänge aus dem Norden
Die europäische Musikgeschichte ist in den gängigen Schilderungen vormals eine zentraleuropäische. Neben den musikalischen „Grossmächten“ – Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn – konnte im ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem Russland eine wirkungsmächtige Nationalstilistik ausbilden. Den Skandinaviern wurde zumindest ein gewisses naturmystisches Kolorit zugestanden während England in der Darstellung mancher Zeitgenossen als „das Land ohne Musik“ gebrandmarkt wurde, das seit dem Tod des „Orpheus Britannicus“ Henry Purcell 1695 nichts mehr zur Musikgeschichte beigetragen hatte. Die anhaltende Popularität von Komponisten wie Edward Elgar, Gustav Holst oder Benjamin Britten strafte diesen historischen Blödsinn zwar Lüge, dennoch entwickelte die britische Musik eine vom Festland unabhängige Stilistik, die sich im Besonderen in der reichhaltigen Chorliteratur äussert.
Edward Elgar (1857-1934) schuf höchst avancierte Orchesterwerke, blieb in seiner musikalischen Sprache jedoch stets dem Rahmen einer spätromantisch-erweiterten Tonalität verpflichtet, was gerade seinen Chorwerken eine berückende Schlichtheit verleiht. Auch die innigen „Songs of Farewell“ von Charles Hubert Hastings Parry (1848-1918), die der Komponist am Ende seines Lebens im Wüten des Ersten Weltkriegs schrieb, reflektieren die vokale Tradition britischer Sakralmusik und reichern diese mit einer farbigen Harmonik und einer höchst ausdifferenzierten Phrasierung an. Mehr als ein halbes Jahrhundert später entwickelte John Tavener (1944-2013) eine mystische musikalische Sprache, die sich an orthodoxen Gesängen, Minimal Music und freitonalen Klängen orientierte. Seine berühmte Komposition „The Lamb“ entlockt einer einfachen melodischen Bildung durch axiale Spiegelungen und eine bestechend schlichte Harmonisierung einen ätherischen Klangkosmos, der in der modernen Chormusik seinesgleichen sucht. Diese scheinbar zeitlose Musik schliesst wiederum den Bogen zu den für heutige Ohren teils ebenso modern anmutenden Kompositionen des britischen Renaissance-Komponisten William Byrd (1538-1623). Dessen Messe für vier Stimmen mit ihrem unwiderstehlichen Klangströmen bildet einen Höhepunkt der Musik des Renaissance.
Eine moderne Chorliteratur, die zwar höchste Anforderungen an die Sänger*innen stellt, durch die Verwendung von tonalen Fragmenten und tradierten Kompositionstechniken auch für Laien ausführbar bleibt, prägt die nordische Chormusik bis heute. Sven-David Sandström (*1942) entspinnt in seiner William Blake-Vertonung „To see a world“ aus einer motivischen Keimzelle eine repetitive Meditation von ungeheurer Sogwirkung, während der Finne Jaakko Mäntyjärvi (*1963) in seiner Vertonung des „Ave Maria“ gregorianische Manierismen mit enigmatischen Sprechchören kombiniert.
Moritz Achermann